Wellenfeld. Konzert für Gehirnwellen

ZUR PSYCHOGEOGRAPHIE EINES ORGANLOSEN KÖRPERS

Die Gehirne von Rudolf Eb.er, Joke Lanz, GX Jupitter-Larsen und Mike Dando sind mittels eines Radioelektroenzephalografen (EEG) resp. Gehirnwellentransmitters an eine Beschallungsanlage angeschlossen. Die elektrischen Impulse der Gehirne erzeugen Signale die in einen elektroakustischen Frequenzbereich übertragen werden. Für menschliche Ohren beginnen die hörbaren Tonfrequenzen im Bereich von 20 Hertz und sind hörbar bis in den Bereich 20 Kilohertz, das heißt, 20 bis 20.000 Schwingungen pro Sekunde, was Wellen von wenigen Zentimetern bis zu einigen Metern entspricht. Die Hirnwellen werden daher akustisch verstärkt um sie wahrnehmbar zu machen. Zu hören sind Hirnströme, die sich durch Spannungsschwankungen bzw. durch die jeweilige Geistestätigkeit verändern. Die Gehirnwellenaktivitäten können dabei Muster aufweisen die rhythmischen Motiven gleichen. Rauschen, Feedbacks, organisches Dröhnen und Pfeifen, oszillierende Klickgeräusche im niederfrequenten Hörbereich bis hin zur hochfrequenten Schmerzschwelle lassen dabei einen jeweiligen Bewusstseinszustand ertönen.

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Was wie eine neurologische Untersuchung in einer psychiatrischen Abteilung eines Hospitals abläuft, ist eine Live Musik Performance auf dem „Extreme Rituale – Ein Schimpfluch Karneval“. Das Konzert  für Hirnwellen fand am  Abend des 2. Dezember 2012 in Bristol, UK statt. Konzipiert durch Rudolf Eb.er, neben Joke Lanz et.al., Mitbegründer der „Schimpfluch-Gruppe“, unterstützt durch die Noiseprotagonisten GX Jupitter-Larsen und Mike Dando, entsteht eine denkwürde Musikaufnahme. Mick Grierson hat die Datenströme in Audiosignale übersetzt, Rashad Becker hat diese live abgemischt. Michael Münnich, Betreiber des Hamburger Plattenlabels „Fragment Factory“, das auf elektroakustische Musik spezialisiert ist, hat eine auf 300 Stück limitierte Audio-CD Edition dieses denkwürdigen Konzerts herausgebracht –  „Wellenfeld“ (Concert for Brainwaves) [FRAG31].

Das Fundament dieses Abends wurde schon vor über 25 Jahren gelegt als eine Gruppe von Künstlern sich in Zürich als Schimpfluch-Gruppe formierte und mit psycho-physischen Praktiken, Ritualen, Tests und Methoden versuchte Zugänge zu den unbewussten Räumen des menschlichen Bewusstseins zu kartographieren. Toninstallationen mit Naturtönen und extremster Akustik, verstörende Filme und Fotografien über die Entgrenzung des menschlichen Körpers, ekstatische und tantrische Performances zeugen davon. Die Artefakte der Gruppe sind auch zugleich Pforten in traumatische Weiten und Abgründe menschlicher Existenz. Auch die eigenartige interdisziplinäre Mischung der akustischen, nummerischen und begrifflichen Konzeptkunst Jupitter-Larsens, welche mittels einer eigens entworfenen Maßeinheit die Entfernung und Getrenntheit von Entropien, Leer- und Zwischenräumen erforscht, oder die Arbeiten von Mike Dando, die sich mit sozialen Konflikten und politischer Kontrolle beschäftigen, stehen den Arbeiten von Eb.er und Lanz in nichts nach.

Das jahrelange Erforschen und Praktizieren kulminiert an diesem Abend des 2. Dezember 2012 in eine sonderbare elektroakustische Aufnahme. Ursache der akustisch verstärkten und dadurch hörbar gemachten Spannungsschwankungen der jeweiligen Gehirnaktivitäten sind physiologische Vorgänge einzelner Gehirnzellen, welche sich anhand ihrer spezifischen räumlichen Anordnung im Gehirn willentlich durch die Protagonisten potenzieren lassen, so dass sich über die Kopfhaut Potentialänderungen ableiten lassen. Die willentliche Manipulation von Gehirnwellen kann durch Imagination, visuelle oder akustische Reizüberflutung oder Reizdeprivation verstärkt werden. Im psychogeographischen Relief, das durch das EEG grafisch dargestellt werden kann bzw. das durch „Wellenfeld“ gezeichnet wird, ist das Ausmaß der individuellen Erzeugung eines Wellenfelds nur schwer auszumachen. Die Sounds der Gehirnwellenaktivitäten morphen, mykorrhizieren, überlagern sich zu gemeinschaftlichen Fäden und Strömen bis, die akustisch verstärkten und so wahrnehmbaren Vibrationen, Hörflächen entstehen lassen, die auf bestimmte Symptome von Bewusstseinszuständen hinweisen:

In der empirischen Forschung zu Bewusstseinszuständen deuten Gehirnströme im Alpha-Bereich von 8 Hz-12 Hz  Zustände leichter Entspannung und im Bereich von 21-38 Hz Zustände von Horror, Stress oder Angst an. Der Theta-Bereich von 3 Hz–8 Hz zeigt meditative Zustände an. Die niedrigste Frequenz im Delta-Zustand bis 0,4 Hz weist auf hypnagoge Zustände in Form von Trance oder Hypnose hin. Der Gamma-Bereich der sich zwischen 40 Hz und 80 Hz bewegt ist allerdings wegen seiner niedrigen Amplitude und aufgrund unzureichender Messinstrumente noch wenig erforscht. Vermutet werden in diesem Bereich Zustände konzentrierter und intensivster Anstrengungen als auch die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, die Art der Wahrnehmung sowie Wahrnehmungsinhalte. Mystische oder transzendente Erfahrungen in Form von Verlust des Ich-Gefühls oder Verschmelzungserlebnissen werden mit diesem Bereich in Verbindung  gebracht. Folglich könnten bestimmte Amplituden innerhalb jener Frequenzbereiche mit spezifischen mentalen Zuständen korrelieren.

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Der Sound von „Wellenfeld“ lässt sich mit dem beschreiben was Deleuze und Guattari in „Anti-Ödipus“ das molekulare Unbewusste nennen – die Verbindung von Wunsch und Maschine und das Eindringen mit einem organlosen Körper in einen glatten Raum, welcher die individuelle Personalität defundiert. Die Protagonisten bilden sozusagen eine mit ihrer eigenen Montage verschmolzene Identität, die verstreute und nicht-lokalisierbare Fragmente absondert, die sich wiederum auf andere aufsetzen und Ströme assoziierter Felder ableiten, „die aus der Entfernung transversale Konnexionen, inklusive Disjunktionen, polyvoke Konjunktionen induzieren und derart in einer verallgemeinerten Schizogenese, deren Elemente die Spaltungsströme sind, Entnahmen, Abtrennungen und Reste mit Individualitätsübertragungen produzieren“ (Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, S. 370).

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Spannend bleibt die Frage, welche Bilder, Zustände, Wunschregungen der Protagonisten die Spannungsschwankungen entstehen lassen. Bilder von Wüsten, durch Winde erzeugte Wellenbewegungen von Wasser, Schnee und Sand, Grundrisse von städtischen Räumen, Diffusionen von organischen Materialien…Vielleicht sind dies aber auch nur Projektionen des Hörens, indem das je eigene Gehirn bemüht ist, Gewohntes in dem Sound zu finden und zu visualisieren. Vielleicht gingen Eb.er, Lanz, Jupitter-Larsen und Dando einfach nur mit einem Liedchen im Kopf an diesem Tag aus dem Haus, kamen vom Kurs ab, bis sie sich auf „Irr-Linien“ mit Windungen, Verknotungen und Gebärden, auf oszillierenden Linien wiederfanden und  organlos wurden. Vielleicht liegt auch hierin die disjunktive Negentropie von „Wellenfeld“ – Was man sich vorstellt, „liegt nicht in dem, was man hört, was man hört, sucht man vergeblich in den Bildern“ (Achim Szepanski). Im diesem namenlosen „Dazwischen“ steht „Wellenfeld“. Wer hier Krach oder Störgeräusche wahrnimmt ist noch in einen konservativen Kontext von Musik und bürgerlichen Vorstellungen von Rhythmus und Ordnung  eingebunden. Die Musik die hier entsteht bedient sich nicht aus Artefakten von Instrumenten oder Samples. Hier entsteht eine radikale Cyborg-Musik, eine Deterritorialisierung dessen was mit Johann Sebastian Bach begann – eine mit künstlichen Prothesen erzeugte non-Musik. (Stefan Paulus // noWHERE-nowHERE.org)

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FOTOS mit freundlicher Genehmigung von MICHAEL MUENNICH.

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