Einsiedler in der russischen Wildnis

Wer heutzutage an Wildnis denkt, denkt möglicherweise an als Wildnis ausgewiesene Naturschutzgebiete oder Zonen in denen kein Handy- oder LTE-Empfang möglich ist, vielleicht denken einige an Hochgebirge, Einöden oder Wüsten.

Gary Snyder beschreibt in seinen „Lektionen der Wildnis“, dass im herkömmlichen Sinne bezogen auf Tiere Wildnis nicht zahm, nicht domestiziert oder unlenksam bedeutet. – Auf Pflanzen: nicht kultiviert – Auf Land: unbewohnt. – Auf Gesellschaften: unzivilisiert, ungehobelt. – Auf Individuen: ungehemmt. Das heißt, „wild“ wird aus einem menschlichen Standpunkt heraus dadurch definiert, als das was es nicht ist. Synder versucht der Wildheit bezogen auf den Standpunkt der Tiere die folgende Bedeutung zu geben: „frei agierend, jedes mit eigener Begabung ausgestattet, in natürlichen Systemen lebend. – auf  Pflanzen:  sich  selbst  fortpflanzend,  sich  selbst  erhaltend, im Einklang mit den vorhandenen Gegebenheiten gedeihend. – auf Land: ein Ort, wo die ursprüngliche und potenzielle  Flora und Fauna intakt sind und in vollständigem Austausch miteinander stehen, und wo die äußere Gestalt des Landes sich vollständig als das Ergebnis nichtmenschlicher Kräfte darstellt; ursprünglich, urtümlich. – auf  essbare  Früchte: Vorhandensein von Nahrung, die  aufgrund des natürlichen Reichtums und des Überschusses an Wildpflanzen erreichbar ist und auf Dauer zur Verfügung steht, und zwar durch ihr bloßes Wachstum und ihre Produktion von Mengen an Samen und Früchten. – auf Gesellschaften: Gesellschaften, deren Ordnung von innen gewachsen ist, und die sich durch die Kraft von Konsens, Sitte und Brauchtum erhalten statt durch Gesetzgebung; primäre Kulturen, die sich für die ursprünglichen und ewigen Bewohner ihres Territoriums halten; Gesellschaften, die sich wirtschaftlicher und politischer Vorherrschaft durch die Zivilisation widersetzen; Gesellschaften, deren Wirtschaftssystem in nachhalt und enger Beziehung zum lokalen Ökosystem steht. – auf Individuen: lokale Sitten, Umgangsformen und Lebensstile befolgend, ohne Rücksicht auf die Maßstäbe der Metropolis oder des nächsten Handelspostens; unerschrocken, auf die eigenen Kräfte vertrauend, unabhängig“ (Gary Snyder, Lektionen der Wildnis, S. 15f).

Für Zivilisierte ist die Idee des „Wilden“ mit Unordnung und Chaos assoziiert. Wenn Henry David Thoreau sagt: „Give me a wildness whose glance no civilization can endure“, ist so etwas nicht schwer zu finden, schreibt Synder. Die Zivilisation ist so wild, dass sie nicht bloß einzelne Lebewesen, sondern ganze Prozesse der Erde vernichten kann. Die Zivilisation sei ein Krieg gegen die Substanz. Schwieriger sei es, so Snyder „sich eine Zivilisation vorzustellen, die in der Lage ist, eine Wildheit auszuhalten“ (S. 10).

Die Fotoreihe „Escape“  des russischen Fotografen Danila Tkachenko zeigt Einsiedler die im selbst auferlegten Exil, weit weg von jeder Stadt oder Dorf, in der russischen oder ukrainischen Wildnis leben:

 

 

I was traveling in search for people who have decided to escape from social life and lived all alone in the wild nature, far away from any villages, towns or other people.

The main characters of my project violate social standards for different reasons. By a complete withdrawal from society they go live alone in the wild nature, gradually dissolving in it and losing their social identity. While exploring their experience, it is important for me to understand if one is able to break free from social dependence and get away from the public to the subjective – and thus, to make a step towards oneself.

I am concerned about the issue of internal freedom in the modern society: how feasible it is, when you’re surrounded by a social framework all the time? School, work, family – once in this cycle, you are a prisoner of your own position, and have to do what you’re supposed to. You should be pragmatic and strong, or become an outcast or a lunatic. How to remain yourself in the midst of this?

I grew up in the heart of the big city, but I’ve always been drawn to wildlife – for me it’s a place where I can hide and feel the real me, my true self, out of social context.” (Danila Tkachenko)

 

Die Arbeit von Tkachenko bzw. die Einsiedler bringen Fragen darüber auf, was Identität bedeutet, wie wir kultiviert, zivilisiert, normalisiert, domestiziert oder gelenkt werden. „Escape“  ist vielleicht die konsequenteste Form sich den Einschließungsmilieus zu entziehen. „Escape“  zeigt aber auch die „Gegenplazierung“ oder „Widerlager“, wie Michel Foucault die „Heterotopien“ bezeichnet, in denen „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.“

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