Birger Sellin (*1973 in Berlin), seit seinem zweiten Lebensjahr autistisch. Er kann sich jedoch mit Hilfe der Methode der „gestützten Kommunikation“ seit seinem 17. Lebensjahr schriftlich äussern. Dokumentiert werden hier Auszüge der ersten Texte von Sellin aus dem Jahr 1990 und weitere aus dem Jahr 1992 (vgl. Sellin, Birger 1993: ich will kein inmich mehr sein, Köln):
„abcdfghijklmnopqrstuvwxyz
birger papa jonasmama“ 27.08.1990
„unsere einfach wunderbare insel der ausbeutenden
oberasse wird eines tages ertrinken aus keineswegs
unbekannten gründen“ 22.02.92
„aus wichtigen gründen finde ich
totales irresein leichter als kasteiungen in besagten isolierungsirrtümern zu leben
ich kann nicht rausfinden wieso ich so eingemauert leben muss“ 22.03.92
„ich werde darin ertrinken
ausser ich finde einen weg aus diesem wiederlichen labyrinth“17.04.92
„eissig ist die welt aussen
und innen ganz heiss
ich wohne ohnemich in einem ungeheueren wirklichen vulkankrater“ 29.04.92
„ich halte dieses sagenhaft wie gut ohnemichmensch birger
sich traut so verzweifelt zu sein
er hat so gute gedanken und geht irrwege in die heidnische hoffnungslosigkeit“ 23.08.92
„rillendasein ist inseldasein in einer beengten lebenspersonalität“ 24.0892
„die bosheit einer unwirklich lebenden gesellschaft hat ihren inneren kern nie erreicht
wie eine insel in einem ungestümen meer ist ihre kleine
welt“ 12.09.92
„zerrissene zeit kann ich nicht suchen
sie ist unwiederbringlich ewig aus einem zeiterzeugerreich ausgelöscht
ich verstehe unter zerrissener zeit die zeit die einem menschen zur verfügung gestellt wird
und die gnadenlos eimerweise innerhalb und ewig einmalig
ungewisser ungewissheiten riesenhaft idiotisches irresein ruhelos zuschüttet“ 19.10.92
„ich tituliere meine kunst die innenweltkunst aller idioten und autisten
wir erklimmen mit unserer die niederungen der elendigkeit menschlichen daseins“ 27.10.92
„tränen in mitten der wüste
insel der trauer
immer diese ätzende gottlose schrei
einzigartig aus weinenden eingetrockneten nimmersatten kehlen
innere inseln der trauer
wunden wieder und wieder eiternd aus tausend inneren quellen hervorbrechend
aus tausend inneren quellen werden wasserbäche hervorströmen und innere wissende inselweisheiten ausströmen“ 14.11.92
„einen inselmenschen kann niemand schnell kultivieren
es ist ein langer außerordentlich schwieriger weg und sucharbeit im labyrinth nötig“ 20.11.92
BIRGER SCHREIBT AN CHRISTOPH, EINEN 12 JÄHRIGEN AUTISTEN DER SELBST MIT „gestützter Kommunikation“ SCHREIBT:
„ich freue mich über dein gedicht
es ist wie eine ätherische übertragung verlorener gedanken innerhalb unserer welterdiger vernunftbeherrschter
irdischer untermarterstehender wesen“ 21.12.92
„eines ist irre
in sich sein ist ein toter zustand
ohnesichsein ist einsamkeit“ 25.12.92
FELIX KUBALLA stellt in dem Film „Wie ein wuchernder Erdklumpen auf der Seele“ über das Leben von BIRGER SELLIN folgendes Zitat voran:
„Ich will Euch mitnehmen in meine Welt, aber unter der Bedingung, dass ich auch ohne Angst sein kann,
verachtet zu werden. Ich schäme mich so aller meiner unsinnigen Fehler. Ein Film müßte sie zeigen. Ich
will einen Film, der in die Autistenseele hinabsteigt. Ich will einen Film, der in deutlicher Form zeigt, wie
wir Wesen einer anderen Welt sind. Ein Film sollte nicht so sein, dass er wieder von außen gezeigt wird
und andere über uns Aussagen machen. Ich will, dass wir selbst zu Wort kommen, wie wir es können.
Unsere innere Welt soll aufgedeckt werden, damit uns die Menschen einfach mittels Film geistig erkennen
als ihresgleichen und wir wieder ein wenig Achtung von ihnen erhalten, wie Personen ihresgleichen. Ein
Film wird zeigen, wie behindert ich bin. Ich denke, dass mich das schockieren wird. Aber ich will es
so. Damit alle erkennen, Außen und Innen sind wie sagenhafte, ungeheuer getrennte Welten und nichts
verbindet diese Welten miteinander, nur das Schreiben. Ich nehme Euch mit, wie meine Gäste. Ich nehme
Euch mit, wie Eingeladene in das Kein-Menschen-Land wie erste Eindringlinge in unser Autistenland.
Unantastbar und traurig ist unsere Welt. Sobald ein Mensch in diese Ohne-Sich-Welt eintaucht, verliert
er die Kontrolle über sich selbst und über die Umwelt, über die Zeit, über das Handeln.“