Psychogeo… was?
Der Begriff der Psychogeographie, so schreibt Guy Debord in der „Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie”, geht auf einen „des Lesens und Schreibens unkundigen Kabylen“ zurück. In diesem zusammengesetzten Wort gibt der Begriff Geographie Aufschluss über die Wirkung allgemeiner Naturkräfte. Er beschreibt die Zusammensetzung des Bodens oder die klimatischen Verhältnisse, vermittelt diese mit der wirtschaftlichen Struktur einer Gesellschaft und kann Aussagen über das Verhältnis von Naturressourcen und wirtschaftlicher Entwicklung einer Gesellschaft machen. Die Psychogeographie in Erweiterung hat die Erforschung der Wirkweise der geographischen Struktur als Raum und Ort des menschlichen Handelns auf das Gefühlserleben des Individuums zur Aufgabe. Das Adjektiv psychogeographisch beschreibt demnach die Resultate des geographischen Einflusses auf die menschlichen Gefühle und die Psychogeographie als Methode ist die Erforschung der exakten Wirkungen des geographischen Milieus, das – bewusst eingerichtet ist oder nicht – direkt auf das emotionale Verhalten von Personen einwirkt.
„Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen; die Richtung der stärksten Gefälle (ohne Bezug auf den Höhenunterschied), der alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen; der anziehende oder abstoßende Charakter bestimmter Orte – all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann.“ (Debord)
Das Spektakel und der symbolische Tausch
Nach Debord vermittelt sich zwar ein Gefühl von Zufriedenheit oder Unbekümmertheit, wenn man sich in einer sicheren oder gewohnten Umgebung bewegt, allerdings übersehen Passant_innen aber gewöhnlich die Vielfalt von möglichen Stimmungskombinationen. In „Die Gesellschaft des Spektakels“ beschreibt Debord, wie Personen die Umwelt nicht mehr kritisch wahrnehmen, weil das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Personen im kapitalistischen Zeitalter nur noch auf die zugewiesenen Rollen als Produzent_innen oder Konsument_innen, Chef oder Angestellte etc. reduziert ist. Die Verhältnisse werden unsichtbar und durch Werbung, Klischees und Wünsche verdeckt. Erwünschtes wird durch seine Repräsentation bzw. durch ein Substitut ersetzt, welches das Versprechen nicht einlösen kann. Das SUV (Geländelimousine) ist ein typisches Klischee: Einerseits erweckt es das Bild eines wilden und freien Lebens, die Möglichkeit in die verwinkelten Regionen und tiefsten Wälder vorzudringen und andererseits blockieren SUV´s im Alltag höchstens zwei Parkplätze bei ALDI. Zubehör, wie Schlammsprays, suggerieren, dass das Auto tatsächlich im Gelände war und „regen zwar zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe an, bringen aber nur die stets durch das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierte Enttäuschung wieder. […] Unvereinbare Behauptungen drängen sich auf der Bühne des vereinigten Spektakels der Überflusswirtschaft, ebenso wie verschiedene Star-Waren ihre widersprüchlichen Einrichtungspläne der Gesellschaft vortragen, in der das Spektakel der Automobile einen reibungslosen Verkehr verlangt, der die alten Stadtkerne zerstört, während das Spektakel der Stadt selbst Museen-Viertel braucht.“ (Debord).
Und je mehr die Zuschauer_innen zuschauen, umso weniger leben sie; je mehr sie akzeptieren, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger verstehen sie ihre eigene Existenz und Begierde (vgl. Gesellschaft des Spektakels: §30).
Stadtentwicklung als kapitalistische Dressur des Raumes
Attila Kotanyi und Raoul Vaneigem schreiben im „Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus“, dass die Städteplanung und die Entwicklung eines städtischen Milieus letztlich die kapitalistische Dressur des Raumes ist. Sie sei dadurch gekennzeichnet, dass sie die Bejahung der Bevölkerung fordert, die wiederum zu einer individuellen Integration in die Ingangsetzung der bürokratischen Produktion der Konditionierung führt:
„All das wird durch das erpresserische Geschwätz von der Brauchbarkeit erzwungen. Verheimlicht wird aber, dass die ganze Bedeutung dieser Brauchbarkeit in den Dienst der Verdinglichung gestellt wird. Der moderne Kapitalismus lässt einen auf jede Kritik verzichten mit dem simplen Argument, man brauche ein Dach über dem Kopf, ebenso wie die Einführung des Fernsehens damit entschuldigt wird, man brauche Information und Unterhaltung. So übersieht man schließlich die offensichtliche Tatsache, dass diese Information, diese Unterhaltung, diese Art des Wohnens nicht für Menschen gemacht sind, sondern ohne sie, gegen sie.“ (Kotanyi/Vaneigem)
Der Verkehr als Dispositiv der Stadtentwicklung ist für Kotanyi und Vaneigem „die Organisation der Isolation aller.“ Der Individualverkehr lässt keine Begegnungen zu und die Stadtentwicklung wird durch das Spektakel kompensiert, denn „in Wirklichkeit bewohnt man nicht ein Stadtviertel, sondern die Macht. Man wohnt irgendwo in der Hierarchie. […] Am Gipfel dieser Hierarchie kann die Rangordnung am Grad des Verkehrs gemessen werden.“ (Kotanyi/Vaneigem)
Die psychogeographische Erforschung von Räumen
Die psychogeographische Erforschung bezieht sich auf die Dispositionen der Bestandteile des Raumes und auf die hervorgerufen Empfindungen. Sie konzentriert sich auf die Erforschung der Einflüsse von den verschiedenen errichteten ordnungssystematischen Szenerien. Technik der Psychogeographie ist das Umherschweifen, Driften bzw. ein Dérive. Damit verbunden ist das Verlaufen oder das Sammeln, Protokollieren, Kartographieren oder Zweckentfremden von Fundstücken, Gesprächen mit Passanten, Sounds etc., um neue Entdeckungen, Erfahrungen und Zusammentreffen hervorzurufen. Dazu zählt z.B. auch, Stadtpläne anderer Städte zur Orientierung zu nutzen. Mit anderen Worten lassen sich darunter Techniken des achtsamen oder eiligen Durchquerens von städtischen oder ländlichen Zonen verstehen. Hierbei geht es darum, die vorhersehbaren Pfade als Fußgänger_innen zu verlassen und Strategien zu überlegen, wie Räume erkundet werden können. Es geht darum, das psychogeographische Relief, die Fixpunkte und Strömungen, die Ein- und Ausgänge oder Ordnungssystematiken von räumlichen Zonen zu erkennen.
„Ein Freund erzählte mir kürzlich, er habe anhand eines Londoner Stadtplans, dessen Anweisungen er blindlings gefolgt sei, den Harz in Deutschland durchquert. Diese Art Spiel ist natürlich nur ein mittelmäßiger Anfang im Hinblick auf eine vollständige Konstruktion der Architektur und des Urbanismus, einer Konstruktion, die eines Tages allen möglich sein wird. Inzwischen kann man zwischen verschiedenen, weniger schwierigen Stadien der teilweisen Verwirklichung unterscheiden, angefangen bei der einfachen örtlichen Verlagerung der Dekorationselemente, denen wir gewöhnlich an vorbereiteten Stellen begegnen.“ (Debord 1955: Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie)
Beim driften geht es nicht um das Verorten und Festschreiben bzw. festgeschrieben werden in einem Ort oder Raum, wie dies bei Pauschalreisen z.B. der Fall ist, sondern um Ortungsfreiheit, um die situationistische Auflösung der vorherrschenden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschematas durch die Bloßstellung eines eindimensionalen, vorcodierten und vorgeführten Alltags.
Entmystifizierung des Alltags
Die psychogeographische Analyse entmystifiziert die Gesellschaft des Spektakels. Sie ist in diesem Sinn eine Selbstüberprüfung: …jede Plattenbausiedlung, jedes Einkaufszentrum, jedes Graffiti bringt Denkweisen über Menschen oder Menschenbilder hervor und enthalten Vorstellungen, die ein spontanes Zusammentreffen mit den darin verkehrenden Menschen nicht zulassen. Debord schlägt eine Produktion von psychogeographischen Karten vor, um den ordnungssystematischen Charakter der Umgebung sichtbar zu machen, die architektonischen Disziplinarstrukturen und räumlichen Manipulationsmechanismen zu verdeutlichen und um den inneren Raum zu kartographieren sowie verschiedene thematische Karten der Befindlichkeit anzulegen, um letztlich das gesellschaftliche Spektakel zu demaskieren, was die Überwindung der kollektiven Langeweile zur Folge hätte.
Solch eine ekstatische Methode setzt ein katastrophisches Szenario voraus: „Man muss die Dinge bis zum Äußersten treiben, bis zu jenem Punkt, an dem sie sich von selbst ins Gegenteil verkehren und in sich zusammenstürzen. […] Man Muss den Tod gegen den Tod ausspielen […]. Aus der Eigenlogik des Systems die absolute Waffe machen. Gegen ein hyperrealistisches System ist die einzig denkbare Strategie gewissermaßen pataphysisch: […] eine Science Fiktion der Kehrtwendung des Systems gegen sich selbst, die sich in einer Hyperlogik der Zerstörung und des Todes umkehrt“, schreibt Jean Baudrillard in „Der symbolische Tausch und der Tod“.